Der Sozialwissenschaftler und Schriftsteller Joke Frerichs hatte Ende der 60er und 70er Jahre bei Heinz Langerhans in Gießen studiert. Vor einigen Jahren hat Frerichs begonnen, in zahlreichen Erinnerungsbüchern seine Biographie im Kontext der Zeitläufte zu stellen und seinen theoretischen Arbeiten einen persönlichen Zugang zu den Verwerfungen und Brüchen (linker) Geschichte an die Seite zu stellen. Frerichs setzt bis heute seine Arbeit unbeirrt von den Launen des Zeitgeistes fort.

Ein längeres Erinnerungsstück ist seinem Lehrer und Freund Heinz Langerhans gewidmet. Frerichs hat es dieser Seite freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Dokumentiert wird es hier aus Darstellungsgründen ohne die wenigen Fußnoten. Deshalb hier der Hinweis Frerichs‘ zum Titel »Der Unzeitgemäße«: »Mit dem Begriff ‚unzeitgemäß‘ lehnte Anfang der 50er Jahre ein bundesdeutscher Verlag die Gedichte von H.L. ab, die Brecht in den höchsten Tönen gelobt hatte.«

Der Unzeitgemäße

Heinz Langerhans wurde 1904 in Berlin-Köpenick geboren. Sein Vater war der legendäre Bürgermeister, mit dem der „Hauptmann von Köpenick“ seinen Schabernack treibt. Obwohl aus bürgerlichem Hause stammend, trat L. 1922 spontan der „Kommunistischen Jugend“ bei. Anlass war die gewaltsame Niederschlagung einer Arbeiter-Demonstration, deren Zeuge er war. Er empörte sich darüber.

 

Er studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin und anschließend Sozialwissenschaften und Geschichte an der Berliner Universität. 1926 wurde er – gemeinsam mit der Gruppe um Karl Korsch – wegen „Linksabweichung“ aus der KPD ausgeschlossen. 1927 immatrikulierte er sich an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Frankfurter Universität. 1931 promovierte er bei Max Horkheimer und Karl Mannheim über das Thema „Partei und Gewerkschaft“. Anschließend kehrte er nach Berlin zurück und wurde Mitglied der SPD, für die er politisch aktiv arbeitete. 1933 wurde er von der Gestapo wegen „Bildung einer Widerstandsgruppe“ verhaftet. Tatsache war, dass er zu einer Gruppe von acht bis zehn Leuten gehörte, die nicht vor Hitler kapitulieren wollte. Zu diesem Zweck gab man eine Zeitschrift namens „Die Initiative“ heraus. Auflage ca. 2.000 Exemplare. Darin warnte die Gruppe bereits früh vor dem nächsten Krieg. Beim Druck der Zeitschrift in seiner Wohnung wurden sie auf frischer Tat ertappt. Sie waren verraten worden.

 

Langerhans wurde wegen Landesverrat angeklagt. Mit Hilfe einer List, bei der der im dänischen Exil lebende Karl Korsch half, gelang es nachzuweisen, dass alle militärischen Daten, die in der Zeitschrift erwähnt wurden, bereits im Ausland veröffentlicht worden waren. Politische Freunde hatten zu diesem Zweck das gefälschte Exemplar einer gar nicht existierenden dänischen Zeitschrift gedruckt und nach Deutschland eingeschmuggelt, so dass der Verteidiger von Langerhans damit vor Gericht aufwarten konnte. Aus dem Landesverrat wurde nunmehr ein Hochverrat. Das hieß: es gab „nur“ drei Jahre Zuchthaus. Nach seiner Entlassung stand jedoch - wie in solchen Fällen üblich - die Polizei vor dem Zuchthaus und verhaftete ihn erneut. Die Gestapo brachte ihn daraufhin ins KZ Sachsenhausen, wo er bis zum 20. April 1939 (Hitlers 50. Geburtstag) bleiben musste. Durch Zufall gehörte er zu den 2.000 politischen Häftlingen des KZs, die von einer Amnestie anlässlich des Geburtstages von Hitler profitierten. Da er in Deutschland ständig Gefahr lief, erneut verhaftet zu werden und als „Rückfalltäter“ keinerlei Überlebenschancen besessen hätte, floh er mit falschem Pass nach Belgien. Geholfen haben ihm Fritz Pollock (ein Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung) und Rudolf Hilferding (ehemaliger sozialdemokratischer Finanzminister der Weimarer Republik und Verfasser des Werkes „Das Finanzkapital“). Als schließlich die deutschen Truppen in Belgien einmarschierten, wurde Langerhans erneut interniert und nach Südfrankreich deportiert. Mitglieder des Frankfurter Instituts und Karl Korsch bemühten sich um ein Ausreisevisum in die USA. Wegen der scharfen Einreisebestimmungen gelang es Langerhans nur über Umwege, in die USA zu kommen. Von Marseille aus gelangte er mit einem Schiff zunächst nach Martinique. In seiner Reisebegleitung befanden sich interessante Leute: Victor Serge, ein führender Trotzkist; Anna Seghers, die deutsche Dichterin und André Breton, der französische Surrealist. Während der Schiffsreise habe Breton mit ihnen „surrealistische Fragespiele“ veranstaltet, erzählte uns Langerhans.

 

1941 kam Langerhans endlich in New York an – empfangen von einem gewissen Dr. Felix Weil, der das Institut für Sozialforschung gegründet und finanziert hat. Langerhans ging nach Boston, wo Korsch lebte, belegte Kurse an der Harvard Universität und bekam schließlich eine Professur am Gettysburg College.

1956 kehrte er nach Deutschland zurück. Bis 1959 war er an der Universität Saarbrücken tätig (gemeinsam mit Ralf Dahrendorf teilte er sich ein Arbeitszimmer); dann folgte eine Gastprofessur in Ostpakistan (Dacca) und 1963 kam er von dort zurück nach Saarbrücken. Schließlich erhielt er 1966 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaften an der Universität Gießen, den er bis zu seiner Emeritierung 1972 innehatte.

 

Aus dieser Zeit stammt unsere Bekanntschaft. Das letzte Seminar, das Langerhans in Gießen veranstaltete, galt seinem Lehrer und Freund Karl Korsch. Anders als in der bundesrepublikanischen Rezeption Korschs üblich, sah Langerhans in Korsch weniger den politischen Philosophen, als vielmehr den Aktivisten, dem es um die theoretische Klärung der Voraussetzungen politischer Praxis ging. Dieses Seminar, an dem auch Auswärtige teilnahmen (wie etwa Michael Buckmiller, ein anerkannter Korsch-Spezialist), gehörte zu den interessantesten Seminaren, die ich erlebt habe.

 

Mir wurde u.a. klar, dass für die Generation, zu der Langerhans gehörte, die Klärung theoretischer Positionen nie Selbstzweck war. Ja – dass das Ringen um die „richtige“ Theorie für sie buchstäblich eine Frage auf „Leben oder Tod“ bedeutete. Eine derartige Ernsthaftigkeit, ja Besessenheit im Umgang mit Theorie hatte ich bis dato noch nicht erlebt. In unserer Studentengeneration konnte man im Gegenteil oft den Eindruck gewinnen, dass für viele das Theoretisieren nur Selbstzweck gewesen ist.

 

Nachdem Langerhans emeritiert wurde, gab er eine große Abschiedsparty, zu der Kollegen und einige Studenten eingeladen waren. Meine Frau und ich gehörten zu den Glücklichen. Wir kannten ihn damals noch nicht näher; hatten uns lediglich das ein oder andere Mal in der Kneipe getroffen. Anlässlich eines solchen Treffens, bei dem viel diskutiert und getrunken wurde, meinte er anerkennend zu meiner Frau: „Donnerwetter Mädchen, Du hältst ja mit“. Er bewunderte ihre Trinkfestigkeit.

 

Langerhans siedelte nach seiner Emeritierung nach Frankfurt/M. über und bezog im Westend, dort, wo er als Student schon einmal gelebt hatte, eine kleine Wohnung. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich zeigen sollte. Seine Vorstellung, er könne gewissermaßen noch einmal an die 20er Jahre anschließen und alte Bekanntschaften aktivieren, erwies sich als Fehlschluss. Zwar wohnten Wolfgang Abendroth und Arkadij Gurland (einer der Mitbegründer des Spartakus) in der Nähe. Aber beide waren alt und hinfällig. So versuchte er, in der dortigen SPD Kontakte zu finden, was sich aber als sehr schwierig erwies. So weit wir das mitbekamen, hatte er wenige politische Freunde. Ein späterer hessischer SPD-Bildungsminister gehörte dazu und eine Freundin, die sich gelegentlich um ihn kümmerte. Er war jedoch zunehmend isoliert und vereinsamte schließlich immer mehr.

 

Wir versuchten mit einigen Freunden – so gut es ging – Kontakt zu halten. Luden ihn nach Gießen und Bremen ein. Besuchten ihn in Frankfurt. Aber es entging uns nicht, dass er ziemlich verwahrloste. Und das führte wiederum dazu, dass er kaum noch Gäste hatte oder selbst eingeladen wurde. In seiner Einsamkeit verzweifelte er schier. Er war auf die Kommunikation mit Menschen angewiesen wie kaum jemand sonst. Wie er selbst hin und wieder äußerte, habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan al. Das sagte er, wenn man ihn fragte, wie er es schaffe, tage- und nächtelang zu diskutieren, dabei zu trinken und seine Virginia nicht ausgehen zu lassen.

 

Was haben wir von ihm gelernt? Zunächst einen völlig unverkrampften Umgang mit Theorie. Langerhans konnte die schwierigsten Zusammenhänge einfach und klar formulieren. Während man sich an der Universität in den Seminaren zunehmend nebulös ausdrückte und man den Eindruck gewann, „je abstrakter desto besser“, sprach er stets so, dass man ihn verstand. Oder er forderte uns auf, zu fragen, wenn wir etwas nicht verstanden hatten. Dann erklärte er geduldig.

 

Ich erinnere mich an eine Charakterisierung des Lukács’schen Denkens durch Langerhans. Meine Frau und ich schrieben Anfang der 70er Jahre in einem philosophischen Hauptseminar an einem Referat über „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Lukacs definiert dort das Klassenbewusstsein unter Zuhilfenahme der Kategorie der „objektiven Möglichkeit“. Dort heißt es: „Indem das Bewusstsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben w ü r d e n , wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in bezug auf das unmittelbare Handeln, wie auf den – diesen Interessen gemäßen – Aufbau der ganzen Gesellschaft v o l l k o m m e n z u e r f a s s e n f ä h i g w ä r e n “. (Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Amsterdam 1967, S. 62)

 

Wir bemühten uns, ihm darzulegen, wie wir Lukács’ Theorie des Klassenbewusstseins verstanden hatten. Was konstituiert ein solches Klassenbewusstsein? Wir fanden Lukács’ Erklärung defizitär, da dieser die Voraussetzung von Klassenbewusstsein nur im „Konjunktiv“ geklärt hatte, womit er sich der eigentlichen Problematik entzog. Langerhans hörte sich das alles geduldig an, um dann lapidar zu antworten: „Nun ja, dem Lukács passt halt die Wirklichkeit nicht“. Das war sein ganzer und abschließender Kommentar zur Problematik, über die wir uns so sehr ereifert hatten.

 

Nur wenn es um politische Zusammenhänge ging und man nicht seiner Meinung war, konnte er heftig werden. Dann kannte er keine Freunde mehr. Zu tief saßen noch die Erfahrungen und Entbehrungen, die er auf sich genommen hatte. Das hatten wir zu akzeptieren.

 

Langerhans lehrte uns, nicht zu viel Respekt vor den großen Denkern zu haben. Beispielsweise vor Adorno. Anlässlich der Lektüre von Bert Brechts „Tui-Roman“-Fragment fragten wir ihn nach seinen Erfahrungen mit den führenden Leuten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. (Brecht hatte bekanntlich u.a. Figuren des Instituts zum „Vorbild“ für seinen Roman genommen).

 

Daraufhin nannte Langerhans Th. W. Adorno, vor dem wir eine enorme Hochachtung hatten, einen „gnadenlosen Propheten“, einen „Denker ohne Leib“. Wir glaubten, nicht recht zu hören. Er begründete dies so: Adorno sorge sich „im Zeitalter der Gleichmacherei“ infolge des Faschismus und Bolschewismus vor allem um den Fortbestand der Kultur. Ob man Beethoven nach dieser Zeit noch genauso hören könne wie vorher. Ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne – das seien die Fragen, die Adorno bewegt hätten. Nicht so sehr das Schicksal der Arbeiterbewegung. Mit dem „gnadenlosen Propheten“ meine er, dass Adorno nur die Alternative „Brave New World“ oder „1984“ gelten ließ. Seine „Dialektik der Aufklärung“ könne den „Fortschritt nur als ständigen Rückschritt“ fassen. Für den politischen Denker Langerhans war dies eine nicht akzeptable Theorie. Damit ließe sich auf Dauer nicht weiterleben.

 

Langerhans kannte die führenden Leute des Instituts aus eigenem Erleben. Gemeinsam mit Walter Benjamin u.a. wurde er in den 20er Jahren zu Hilfsarbeiten angestellt. Nicht ohne Ironie erzählte er, dass das Institut zeitweilig eine Art „Zensurinstanz“ für linke Theorie dargestellt habe. U.a. seien Teile der alten Marx-Engels-Gesamtausgabe dort subskribiert worden. Das Institut sei also eine Art „Abteilung der Moskauer Zentrale für den Marx-Nachlaß“ gewesen.

 

Während Langerhans in Max Horkheimer eine Art „gütigen Hausvater“ sah, hielt sich seine Bewunderung für Adorno in Grenzen. Amüsiert erzählte er eine Anekdote aus den 1950er Jahren, als er nach seiner Rückkehr aus den USA dem Institut einen Besuch abstattete. Adorno hielt ein Seminar, in dem es u.a. um das Verhältnis von „Mathematik und Gesellschaft“ gehen sollte. Adorno habe immer „steiler“ diskutiert, woraufhin ein gewisser Bettelheim die Frage gestellt habe, wer von den Anwesenden überhaupt noch etwas verstehe. Keiner der Anwesenden habe sich gemeldet. Adorno sei der Verzweiflung nahe gewesen. Da habe sich die Tür geöffnet und Horkheimer sei hereingekommen. Adorno habe diesen um Hilfe angefleht, aber auch der sei einigermaßen ratlos gewesen. Schließlich habe Horkheimer beide Arme gehoben und gemeint: „Nun ja, hier können wir es sagen“. Kommentar von Langerhans: Das Institut als „Insel der Wahrheit“ in einer immer verruchter werdenden Gesellschaft und die „Wahrheit als Es mystifiziert“.

 

In diesem Zusammenhang berichtete er von der Institutsfeier zum fünfzigjährigen Bestehen des Instituts. Dazu sei er als einer der Ehrengäste eingeladen worden. Vorträge habe es gegeben u.a. von Alfred Schmidt und Oskar Negt, die ihre „Altvorderen“ geehrt hätten. Höhepunkt sei allerdings der Auftritt von Herbert Marcuse gewesen, der von den Studenten begeistert gefeiert wurde. Als Marcuse am Ende seines Vortrags die Faust erhob, sei Horkheimer (angesichts der anwesenden Ehrengäste aus Politik, Wissenschaft und Kultur) buchstäblich erbleicht.

 

Zu den Höhepunkten eines Besuchs von Langerhans gehörten stets die Diskussionen über Brecht. Langerhans kannte ihn schon aus der Zeit der Weimarer Republik, als sie gemeinsam an Korsch-Seminaren teilgenommen hatten. Brecht habe endlich wissen wollen, was es mit der „Dialektik“ auf sich habe. Beide – Brecht und Langerhans – sahen in Korsch ihren „Lehrer“. Langerhans hat Korsch ein wunderbares Gedicht gewidmet, das wir später in einer Gedichtsammlung mit dem Titel: „Sprecher in den Wind“ gefunden haben, die er uns geschenkt hat. Auch Brecht hat sich über sein Verhältnis zu Korsch geäußert.

 

Langerhans besuchte Brecht während der Zeit der Emigration in New York. Brecht habe lässig auf dem Bett gelegen und sich Langerhans’ politische Vorstellungen über die Nach-Hitler-Zeit angehört. Auf die Frage an Brecht, welche Vorstellungen er denn habe, antwortete Brecht nur lapidar: Theater am Schiffbauerdamm. Zur Enttäuschung von Langerhans habe Brecht vor allem an sein Theater gedacht, das er einige Jahre später dann tatsächlich auch bekommen habe.

 

Es kam vor, dass Langerhans während eines Besuchs einen Gedichtband von Brecht nahm und eines seiner Lieblingsgedichte vorlas und die Brechtsche Sprache analysierte. Selbst im KZ, von dem er wenig erzählte, hätten sie Brecht rezitiert. Es sei wichtig gewesen, eigene Aktivitäten zu entwickeln, um den Lageralltag zu überstehen. Man habe Theateraufführungen veranstaltet und das Lied von den Moorsoldaten gesungen. Beim Refrain: n i c h t mehr mit dem Spaten ins Moor, hätten alle beim nicht so kräftig mit dem Fuß gestampft, dass die Baracke wackelte.

 

Besonders beeindruckend war, wenn er das Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration vortrug. Da las jemand, der wusste, was es bedeutete, in die Emigration gehen zu müssen. Nie werde ich den unpathetischen Ton vergessen, in dem Langerhans das Gedicht vortrug: Nahezu tonlos, aber umso beeindruckender.

 

Theoretisch interessierte Langerhans an Brecht vor allem dessen „Formalismus“. Darüber haben wir viel diskutiert, ohne dass mir je klar wurde, was genau Langerhans darunter verstanden hat. Dass es Brecht vor allem um die Formgestaltung gegangen sei. Dass er im Unterschied zu Lukács keinem „abstrakten, vom historischen und gesellschaftlichen Kontext losgelösten Formbegriff“ gehuldigt hat. Aber andrerseits war Brecht in der Anwendung „historisch überholter Formen“ (etwa des antiken Theaters) keineswegs zurückhaltend. Er benutzte so ziemlich alles, was einer inhaltlichen Aussage dienlich sein konnte. Darin waren wir uns einig. Brecht wahrte eine kritische Distanz zur kruden Parteidoktrin, wonach Kunst und Literatur dem Klassenstandpunkt unterzuordnen sei. Er stimmte zu, dass sie eine politische Funktion hätten, bestand aber darauf, dass sie formal für Experimente offen sein müssten. Damit machte Brecht sich selbst angreifbar. Seine Position glich einem „Tanz auf der Rasierklinge“; es war nicht ungefährlich, einen derartigen Standpunkt einzunehmen.

Schon nüchtern betrachtet war dies eine schwierige Diskussion; wenn wir diskutierten, waren wir meist nicht. Wer was vertrat, ließ sich oft schwer entwirren. Jedenfalls haben wir über diese und ähnliche Fragen viel gestritten. Das ging so weit, dass eine Diskussion in einem Frankfurter Lokal, an der sich vor allem meine Frau und eine gemeinsame Freundin beteiligten, wegen der damit verbundenen Lautstärke mit einem Rausschmiss endete.

 

Gern erinnere ich mich an Besuche von Langerhans. Immer häufiger kam es vor, dass Doktoranden auf ihn als „lebender Quelle“ stießen oder ihn für ihre Examina anforderten. Anlässlich solcher Termine kam er dann vorbei und verbrachte einige Tage bei uns. Während der Diskussionen, die buchstäblich Tag und Nacht stattfanden, lebte er auf, war wieder der Alte. Jedenfalls scheinbar.

 

Insgesamt merkte man ihm jedoch den langsamen Verfall an. Das Gedächtnis setzte aus. Er wurde dann aufbrausend, ja aggressiv. War in Wirklichkeit verzweifelt, wegen seiner Lebenssituation. So kam es, wie es kommen musste. Als wir ihn im September 1975 in Frankfurt besuchen wollten, trafen wir ihn nicht mehr an. Eine Nachbarin berichtete uns, er sei in eine Klinik gebracht worden. Wir fanden ihn in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie wieder. Er hinter Gittern, wir davor. Eine absurde Situation. Flehentlich bat er uns, ihn rauszuholen. Wir konnten jedoch nichts machen. Man ließ ihn nicht, man ließ uns nicht, da wir weder verwandt waren, noch sonst ein Mandat besaßen. Anderen Freunden ging es ebenso. Später hörten wir, dass er schließlich die Nahrung verweigert hat und buchstäblich verhungert ist. Er, der Zuchthaus und KZ überlebt hatte, musste derart erbärmlich enden. Es war nicht zu fassen.

 

Als letzte Eintragung über ihn finde ich in meinen Notizen vom Mai 1976: „Heinz Langerhans ist tot. Keiner kann ermessen, was uns dieser Verlust bedeutet. Er war unser Freund, Genosse, Lehrer. Ein Brief von Petra ins Bad Homburger Krankenhaus erreicht ihn nicht mehr. Seit unserem letzten Besuch, als wir ihn in der geschlossenen Abteilung wiederfanden, hatten wir mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber jetzt kommt uns sein Tod völlig absurd vor. Aber schlimmer als seine totale Vereinsamung kann auch der Tod nicht sein. Er, der von den Beziehungen zu anderen lebte, die Kommunikation als Lebenselixier benötigte, erfuhr allzu schmerzlich, was es heißt, ‚aus dem Geschäft’ zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden.

 

Wir haben gehört, dass einige Leute aus seinem Bekanntenkreis eine Totenfeier für ihn inszeniert haben. Wir sind ihr fern geblieben, weil wir der Meinung waren, jetzt braucht man sich auch nicht mehr um ihn zu kümmern. Und mit anzusehen, wie sich Leute mit seinem Namen schmücken und selbst darstellen, das wollten wir auch nicht.

 

Damit enden meine Aufzeichnungen über einen ungewöhnlichen Menschen, der uns den „aufrechten Gang“ lehrte. Er hat uns viel gegeben. Wir lernten ihn auf eine Weise kennen, für die wir dankbar sind. Immer wieder musste ich in den folgenden Jahren an unseren Freund denken. In schwierigen Konfliktsituationen. Angesichts ungelöster Probleme. Immer eingedenk dessen, dass er viel schwierigere Zeiten erlebt und überstanden hat. Gezeichnet zwar, aber ungebrochen. Daran haben wir uns stets ein Beispiel genommen. Und das ist es wohl auch, was er an uns weitergeben wollte.