Michael Buckmiller hat seit 1973 (»Revolution und Konterrevolution. Eine Diskussion mit Heinz Langerhans«, s. Schriften) regelmäßig auf das Werk von Heinz Langerhans hingewiesen und immer wieder Texte aus dem Nachlass publiziert. Die Rezeption von Langerhans, die Ende der 90er Jahre mit Essays von Gerhard Scheit und der Publikation der Broschüre »Staatssubjekt Kapital« neu einsetzt, wäre ohne seine Vorarbeiten nicht möglich gewesen. Langerhans erscheint hier in einer Doppelrolle: als Schüler und Kooperationspartner von Karl Korsch, dessen Schriften Buckmiller herausgibt, der den Bruch dieses marxistischen Philosophen mit dem Parteikommunismus und der marxistischen Orthodoxie vielleicht am genauesten beobachtet hat; aber auch als eigenständiger Denker, der seinem Lehrer gerade dadurch gedenkt, dass er seine eigene Theorie über die (drohende) Zersetzung und (mögliche) Aufhebung der Kategorien des Marxismus skizzierte – er sich also von Korsch emanzipiert hat.

 

 

Die folgenden »Notizen«, die Michael Buckmiller uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat und die er im Rahmen der Essay-Lesung »Die Totalitäre Erfahrung« in Köln am 4. Mai 2017 vorgetragen, setzen deshalb unmittelbar bei der Arbeit des »Korsch-Kreises« und seiner eigentümlichen Situation in den Tagen und Wochen nach der Machtübernahme der Nazis an.

 

Notizen zu Heinz Langerhans (Kölner Fassung)

 

Als die Bourgeoisie den Nazis im Januar 1933 die politische Macht anvertraut, macht der Korsch-Kreis in Berlin wie gewohnt weiter. Im Februar geben er und der Jurist Fritz Hennsler die rätekommunistische Zeitschrift „Proletarier“ mit dem Erscheinungsort Amsterdam heraus. Man denkt über den fehlenden Zusammenhang von Marxscher Krisentheorie und proletarischer Handlungstheorie nach. Hilft eine Anlehnung an Sorels Überlegung zum Mythos Generalstreik?

 

Korschs Studienzirkel „Kritischer Marxismus“ trifft sich weiterhin in der Karl-Marx-Schule (dem Reformgymnasium von Fritz Karsen in Neukölln, wo Hedda Korsch Lehrerin ist) und diskutiert über „Lebendiges und Totes im Marxismus“. Das Fanal des Reichstagsbrandes bringt dem Kreis am Abend des 27. Februar schlagartig zu Bewußtsein, dass die Sicherheit der Teilnehmer unmittelbar bedroht ist: Bert Brecht sucht Unterschlupf bei Peter Suhrkamp und flieht am nächsten Tag aus Deutschland, der ungarische Jude Paul Partos und seine Frau (später Kati Horna) fanden Aufnahme bei Heini Johannsen (später führender Antikommunist) und entkommt nach Paris, Alfred Döblin taucht unter und überschreitet am 28. Februar 1933 die Schweizer Grenze, der jüdische Arzt Herbert Levy wird drei Wochen später verhaftet, Wochen danach gelang die Flucht nach England.. Man könnte noch viele weniger prominente Namen nennen, Ilse Bloch, Hanna Kosterlitz, Walter und Ellen Auerbach … die Gruppe war größer, als man vielleicht vermutet.

 

Karl Korsch selbst geht ebenfalls am 27. Februar nicht nach Hause, taucht in der Gartenlaube bei Freunden unter, wird konspirativ versorgt und geht erst auf dringendes Anraten von Brecht – „Verschaffen Sie sich endlich ein Alibi“ – im Oktober 1933 zu ihm nach Dänemark. Angeblich soll er noch mit Heinz Langerhans und Paul Partos eine Broschüre zum Reichstagsbrand unter dem Titel „Prometheus“ veröffentlicht haben. Heinz Langerhans kann sich vergleichsweise lange halten, wechselt häufig die Wohnungen und wird im Dezember denunziert und in flagranti beim Abnudeln der Zeitschrift „Proletarischer Pressedienst“ verhaftet. Die Gewaltexplosion des totalitären Regimes zerriss den engen Kreis revolutionärer aktivistisch denkender Marxisten.

 

Lehrer im genuinen Sinne ist man nur, wenn Schüler nicht einfach kopieren, nachplappern, sondern die Anregung aufnehmen, methodisches Denken selbst weiterentwickeln, sich von Altem rasch lösen können und „Neues“ begrifflich erfassen auf der Grundlage der gedanklichen Ausprägungen, Eigenheiten und Argumenten, die man vom Lehrer aufgenommen hat.

 

Die über den Freund Leo Friedmann vermittelte Bewertung Langerhans, wonach er Korsch als „antiken marxistischen Philosophieprofessor“ ansah, stammt aus anderer Zeit und bleibt im Kern fraglich. Weltfremdheit kann es nicht gewesen sein, die Korsch 1934 mit Hilfe rätekommunistischer Freunde zur fingierten Beweismittelbeschaffung veranlasst haben und es waren die praktischen Kenntnisse des Juraprofessors, die Strafprozessordnung präzise so anzuwenden, dass das fingierte Beweismaterial durch Geheimdienst nicht neutralisiert werden konnte. In der Strafbemessung sanken die beantragten 15 Jahre Zuchthaus auf drei.

 

Langerhans nimmt den Kampf gedanklich auf, um seelisch im terroristischen System nicht vor die Hunde zu gehen. Wenn die alte Arbeiterbewegung ihre revolutionäre Substanz aufgezehrt hat, die Kraft gegen die Totalisierung von Politik und Ökonomie nicht ausreicht, hilft die Anknüpfung an einen Gedanken von Marx aus der Niederlage der 48er Revolution: Es wäre ja denkbar, dass der revolutionäre Fortschritt sich durch Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution Bahn bricht. Langerhans sagt jetzt wörtlich: Die Konterrevolution hat das Erbe der Revolution angetreten. Was Ernst Jünger schon 1932 in seiner heroisierten Beschreibung des Arbeiters zur neuen Gestalt der – von ihm als rechts und autoritär gedachten – Auflösung der bürgerlichen Demokratie in markigen Pinselstrichen geliefert hat, nimmt Langerhans positiv auf, gar als empirische Ausgangslage und deutet sie in Marxscher Diktion des Widerspruchs von Entwicklung der Produktionskräfte und Bedrohung der Produktionsverhältnisse, die staatskapitalistisch durch „inversive“ Arbeit gestützt werden müssten. Arbeit wird durch veränderte Qualifikationsstruktur, neue Industrieverfahren (Chemie: IG-Deutschland) und ihrer beherrschenden Stellung zum Material als die mögliche außergeschichtliche Einfachheit erkennbar, die das System sprengen wird – die Arbeiter haben die „negative Freiheit für ihre eigenen ungeheuerlichen Zwecke“ – das klingt nach heroischem Sprachspiel und einem visionär entwickelten nachbürgerlich demokratischen System. Die Kategorie der Verdinglichung ist passee: die Verhältnisse offenbaren sich direkt dem Bewußtsein. Die Arbeitswelt, mithin die ganze Gesellschaft wird unmittelbar durchsichtig.

 

Langerhans vertraut die neuen Gedanken zur Lage dem Lehrer an, der für Veröffentlichung und Diskussion sorgt. Korsch begrüßt in vielen Punkten Langerhans' Position, weist aber die aktivistische Deutung der neuen Produktivkraft als Zukunftsmusik zurück. Eine terroristisch verfolgte Bewegung ist faktisch wenig handlungsfähig. Viele Formulierungen erscheinen ihm als „überhitzt“, oder „überschätzt“ – „als überall phantastisch und auf keinerlei empirische Argumente gestützt“. Die totalisierte Entfaltung der Produktivkraft, kritisch gewendet als widerständiger Stoßtrupp, bricht den Totalitarismus nicht. Eher der Mangel mit Unterstützung der Konkurrenz. Sein Freund Leo Friedmann sagt nicht ganz zu unrecht: Er war mehr Poet als Theoretiker. Hier zeigt der angeblich „weltfremde“ philosophische Lehrer im Ergebnis realistischere Perspektiven, auch als beide dann in der US-Emigration sich auch im direkten geistigen Austausch wieder näher sind.

 

Die Auseinandersetzung mit beiden Denkern ist bislang rudimentär. Frühzeitig stimmten Lehrer wie Schüler darin überein, dass die enge innere Verknüpfung der proletarisch emanzipativen Bewegung ihre negativen Resultate erst in der Kette der schweren Niederlagen erkennbar gemacht haben in der Konsequenz, dass die Nabelschnur der Arbeiterbewegung zur bürgerlichen Revolution durchtrennt werden muß: die jakobinischen Muttermale erkannt und theoretisch überwunden werden müssen, wenn es eine befreiende Perspektive geben soll. Das grenzt die praktische Anwendung von Marx ein: Korsch weitet sie in den berühmten Züricher Thesen von 1950 aus durch Wiederaufnahme jener von den Marxisten ausgeschlossenen und verfemten Genossen: Bakunin und all die anderen. Die Gesamtanalyse der Arbeiterbewegung wird eingefordert. Er spricht vom Hochmut der Marxisten und reaktionärer Utopie.

 

Über die Zukunftsperspektiven gehen die jeweiligen Positionen zwischen Lehrer und Schüler auseinander: Zwei prominente, in sich sehr verwandte Schüler haben ihn gewürdigt: Bert Brecht schildert ihn sehr dialektisch als enttäuschten Mann, der fest an das Neue glaubt, auch an das Proletariat, bei dem er eigentlich sich nur als Gast versteht. Als Lehrer bleibe er unentbehrlich. „Mein Lehrer ist sehr ungeduldig. Er will alles oder nichts. Oft denke ich: auf diese Forderung antwortet die gerne mit: nichts.“

 

Langerhans beschreibt seine Jugenderfahrung mit Korsch als die große Sehnsucht nach der Helle, die noch aus dem Dunkel kam. „Werde ich ohne ihn sein“ fragte ich mich als ich an meinen Lehrer dachte in einer Zeit, in der weite, offene Entfernungen zwischen uns lagen und vielfacheres als das Meer. Der tägliche Streit unterschied uns wegen seiner Verschiedenheit. Wie würden wir uns wieder begegnen, fragte ich mich, als ich bemerkte, dass die Marktbuden abgerissen wurden, neben denen er gelehrt hatte.

 

Als Langerhans den Lehrer wieder traf, war die Welt vollständig verändert. Er schildert die KZ-Erfahrung und charakterisiert die Gespräche der Gefangenen auf dem Appellplatz von „ungewohnter Freiheit.“ Die verschiedenen Lehrmeinungen zerfledderten im Lautsprecher der SS. Niemand suchte Unterweisung. Was man brauchte, war ein guter Vorarbeiter. Wie konnten da die Lehrer die Lehrer bleiben? Er fühlte die große Kluft zwischen KZ-Erfahrung und dem bloßen Exil, das er für Korsch geistig deutet. Hatte er nicht die klassischen Bücher schon hinter sich gelassen, als man die Bücher verbrannte?“

 

„Warum wendest du deinen Blick soweit nach rückwärts? Fragte ich den Lehrer, denn ich bemerkte, daß er in alten Büchern blätterte. Die uralte Herrschaft sei noch älter als wir bisher angenommen, sagte er, Es ist also schwerer, sie abzuschütteln, nicht leichter.“

 

Langerhans wähnt den Lehrer wie Brecht als Enttäuschten, und fragt sich, warum er solange bei den Enttäuschten verweile. Langerhans KZ-Trauma schlägt wieder um in das Trotzdem, das Dennoch der Aktion. „Wie könnten wir abseits stehen in einer Zeit, in der die Machthaber unselbstständig werden und die Machtlosen selbständig?“ – Der Kern seiner Totalitarismus – Thesen in Poesie gefasst.

 

Korsch war in der Tat enttäuscht im Sinne von Einsamkeit, weil die Jahre des Exils eine Zeit der geistigen Isolation blieben, ein schier individueller Kampf gegen ihren engen Geist, der kaum eine Spur der Bewegung der Befreiung erkennen ließ. Aber die emphatische Suche nach den Wurzeln der uralten Herrschaft blieb von ungesättigter Neugier und für ihn enttäuschend wesentlich nur deshalb, weil sie nicht in aktiver Bewegung angegangen werden konnte, sondern zwangsläufig auf ihren theoretischen Ausdruck begrenzt bleiben musste.