Widerstand, Exil, Einsamkeit und Reflektion im 20. Jahrhundert.

Heinz Langerhans‘ Lebensweg und Werk

I

Am 2. Juli 1941 schreibt Theodor W. Adorno, der sich zu diesem Zeitpunkt in New York aufhält, an seinen Freund Max Horkheimer im kalifornischen Pacific Palisades:

 

Zu den wirklich erfreulichen Erscheinungen hier gehört Langerhans. Ganz abgesehen von seiner Widerstandskraft, die man nicht genug bewundern kann, hat er einen geistigen Elan, der mir wichtiger dünkt, als die ›theoretische Reife‹, die ihm, beinahe möchte man sagen zum Glück abgeht. Was mich wirklich an ihm so sehr beeindruckt, ist, daß für ihn die Frage des nicht mehr Mitmachens in unserem Sinn nicht als eine der Ferne und der ›Entwicklung‹ sich stellt, sondern daß jedes Wort von ihm auf die unmittelbarste Möglichkeit des Ausbruchs jetzt und hier gerichtet ist. In vielen Dingen stimmt er mit uns überein, ohne von unserem Standpunkt explizit etwas zu wissen, so in der Frage der Überholtheit der ›Politik‹ im alten Sinn, der Massenpartei und andererseits der Möglichkeit, gerade dadurch das übersichtlich Werden der Verwaltungs- und Arbeitsfunktionen bereits heute der Herrschaftsapparatur zu entraten. Es liegt etwas Tröstliches darin, daß ein Mensch, dessen Leben so nahe bei dem verlaufen ist, was heute geschieht, im Grund ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie wir in der Distanz in unserer Theorie.

 

Anderthalb Jahre später — nur anderthalb Jahre später —, am 13. Januar 1943, schreibt Horkheimer an Felix Weil, einem der Gründer und Finanziers des legendären Instituts für Sozialforschung:

 

I just wanted to say that I am glad about Korsch’s reaction to the article of Langerhans. The latter has certain really great intuitions but, unfortunately, his mind seems to be disturbed. It is a fact that most of the people who have been held in a concentration camp bear the traces of hell in their souls.

 

Man kann aus diesen beiden Briefstellen durchaus ableiten, dass etwas vorgefallen sein muss. Der Eindruck wird auch von anderen Äußerungen aus Emigrantenkreisen — Horkheimer erwähnt Karl Korsch, den Lehrer von Heinz Langerhans — gestützt: mit Langerhans stimmt etwas nicht. Menschlich-biographisch ist das kaum zu entschlüsseln, anhand seiner Schriften aber schon. 1942 schreibt Langerhans, unterstützt durch ein Stipendium des Instituts, seinen großen Essay »How to overcome Totalitarianism«, gleichzeitig erarbeitet er mit dem linkssozialistischen Journalisten Leo Friedmann angesichts der Kriegserfolge der Reichswehr in Afrika und in der Sowjetunion einen Text über den Blitzkrieg. Dieser gilt als verschollen, aber aus den Reaktionen der Freunde — allesamt Emigranten, die der kleinen linksradikalen antistalinistischen Opposition angehören, die sich um das Theorieblatt »Living Marxism« scharen – und aus denen der prominenten Leser (Bertolt Brecht!) können wir seine zentralen Thesen rekonstruieren: Die deutsche Armee ist ein Arbeiterherr, sie ist wie eine moderne Fabrik organisiert (und versteht sich auch so), ihre Schlagkraft ist revolutionäre Energie, die um ihren ursprünglichen proletarisch-utopischen Gehalt gebracht worden ist, sich also rein konterrevolutionär äußert, in der Stoßtrupp-Taktik — führerloses, blitzschneller Eingreifen, um die Phalanx der gegnerischen Heeres zu zersetzen — erkennen Langerhans und Friedmann allerdings die neue Schule der proletarischen Avantgarde, wenn auch in vorläufig verkehrter Form.

 

Fünfzig Jahre später sind es Heiner Müller und Alexander Kluge, die diese Thesen wieder aufgreifen und sie aber Karl Korsch (der sie in Wirklichkeit abgelehnt hatte) und Bert Brecht (der sich von ihrem Radikalismus fasziniert zeigte, sie sich aber nicht zu eigen machte) zuschreiben. Es existiert aber eine verstörende Korrespondenz: Der deutsch-italienische Schriftsteller Curzio Malaparte, ebenso brillant wie gnadenlos opportunistisch, entwickelt in seinen Kriegsreportagen aus Russland, die er für »Corriere della Sera« schreibt (in der Nachkriegszeit gesammelt unter dem Titel »Die Wolga entspringt in Europa« erschienen) die gleichen Thesen. Selbstverständlich hat eine gegenseitige Kenntnisnahme nicht stattfinden können! Nach dem Krieg wird Malaparte geschickt genug sein, seine Artikel als camouflierte Kommunismus-Apologie, die er in die faschistisch kontrollierte Tageszeitung eingeschmuggelt habe, auszugeben.

 

Es geht an dieser Stelle nicht darum zu diskutieren, ob Langerhans zusammen mit seinem zeitweiligen Co-Autor Friedmann Recht hatte oder nicht, ob seine Totalitarismus- wie seine Blitzkriegs-Thesen konsequent marxistisch sind oder vielmehr Anzeichen geistiger Dekomposition. Die Leser damals, allesamt selbst bedrängte, entwurzelte Existenzen, viele doppelt — vom Nationalsozialismus und vom Stalinismus — verfolgt, konnten sich keinen Abstand leisten und haben Langerhans‘ Thesen als direkte Folge eines durch historische Traumata zerrütteten marxistischen Denkens verstanden. Wir aber haben den Abstand und können ihn uns privilegierterweise leisten: Man muss die Thesen von Langerhans als für ihn letztmaligen Versuch lesen, unter äußerster Anstrengung des Begriffs und Inanspruchnahme marxistischer Kategorien – Klassen an sich/Klasse für sich, gesellschaftliche Arbeitsteilung, Produktivkraftentwicklung, Kapitalfetisch, Atomisierung gesellschaftlicher Beziehungen auf der Zirkulations(= Waren)ebene, Umschlag von formeller in reelle Subsumtion — die extremen, scheinbar auseinanderklaffenden, sich rasend schnell widersprechenden Erfahrungen seiner Epoche zu einem einheitlichen Ausdruck zu synthetisieren.

 

In Kenntnis seiner Totalitarismus-Schrift kann man festhalten: Es ist ihm gelungen. Aber das ist kein Trost. Seine theoretische Verdichtung stiftet keine Praxis, auch nicht ihre gedankliche Vorwegnahme. Langerhans treibt diesen Ausdruck bis zur Grenze (die auch eine des sprachlich Möglichen ist), an der sich dieser Ausdruck selbst vernichtet. Aus der Tradition des revolutionären Marxismus kommend stellt Langerhans die Revolution und den Sozialismus selbst in Frage, ihre positive Substanz sei aufgebraucht. Sein Freund und Lehrer Karl Korsch, der in den 20er Jahren den Prozess der rücksichtslosen Selbstkritik des Marxismus in Gang gesetzt hatte, ist ratlos: Wohin führt das? Was willst du? Es bleibt ja nur noch ein Verlöschen übrig. Wie ist vor diesem Hintergrund der Satz Adornos zu verstehen: » … daß jedes Wort von ihm auf die unmittelbarste Möglichkeit des Ausbruchs jetzt und hier gerichtet ist«?

 

Tatsächlich rutscht Langerhans in eine Art schizophrenen Zustand ab (hier nicht klinisch gemeint), emotional und lebensweltlich sieht er sich der Szene der unabhängigen Kommunisten noch verbunden, theoretisch-analytisch hat es ihn aber herausgetrieben. Die Konsequenz ist nicht ohne Tragik: Er schließt sich 1944 der Network-Gruppe um Ruth Fischer an. Fischer, 1925 die letzte »linke« und von Moskau sich unabhängig wähnende Parteiführerin der KPD — der 21jährige Langerhans war damals KP-Jugendfunktionär und ihr persönlicher Assistent —, avancierte schon bald zur persönlichen Todfeindin Stalins, der sie folglich während der Schauprozesse 1937 in Abwesenheit zum Tode verurteilen ließ, ihr Mann und engster politischer Genosse Arkadij Maslow wurde wahrscheinlich von Stalins Schergen 1941 in Havanna ermordet. Darauf startet Fischer in den USA ihren wissenschaftlich nur fadenscheinig bemäntelten Rachefeldzug gegen KP-nahe Emigranten, ihr bekanntestes Opfer ist ihr Bruder Gerhart Eisler (später Chef-Propagandist der SED), den sie als »State Enemy No.1« denunziert und zur Ausreise zwingt.

 

Die Network-Gruppe leistet ausschließlich Denunziationsarbeit, Langerhans unterstützt die Gruppe theoretisch-moralisch durch einen offenen Brief über »Das Ende der deutschen politischen Emigration« (1944). Der Antifaschismus sei offen reaktionär geworden, an seiner Stelle müsse der Antistalinismus folgen. Anfang der 50er Jahre wird Ruth Fischer Langerhans rauspauken müssen und ihn vor der Abschiebung bewahren: Er ist selber in den McCarthy-Verdacht geraten, kommunistische Wühlarbeit geleistet zu haben.

 

II

Wir brechen hier den biographischen Bogen ab. Implizit wird klar, was die »totalitäre Erfahrung« ist und welche Dilemmata aus ihr folgen. Aus dieser Erfahrung lässt sich keine einheitliche Praxis — als dialektische Antwort des Aufhebens — mehr gewinnen. Oder doch? Und worin bestünde sie?

 

Langerhans hat die totalitäre Erfahrung auf jeder Ebene seiner persönlichen, kreatürlichen, intellektuellen Existenz erlebt (Horkheimer spricht von den Spuren der Hölle …): Es fängt damit an, dass der Köpenicker Bürgersohn, der 1918 überhaupt nichts von der Revolution hält, die terroristische, bewusst willkürlich inszenierte Gewalt der Freikorps-Truppen erlebt. Das ist seine Politisierung. Er erlebt die Unterwerfung der KPD Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts unter die Direktiven der Moskauer Zentrale und erkennt darin die Vorwegnahme von Nazi-Methoden. Er erlebt im Untergrund 1933 die völlige Zersetzung der deutschen Arbeiterbewegung und gleichzeitig ihre zombieartige Resurrektion im Kostümfest des Nationalsozialismus, in dem die Welt der Arbeit ihren festen Platz einnimmt. Es folgen Haft und KZ, eine abenteuerliche, unendlich Kraft kostende Flucht in die USA, der Frust der politisch wirkungslosen Emigration, die antikommunistische Paranoia der Nachkriegszeit, die Restauration im Deutschland der 50er Jahre. Es scheint, dass er erst im damals noch ostpakistanischen Dhaka, wo er 1959 eine vierjährige Gastprofessur für Politologie antritt — Theorie der internationalen Beziehungen —, zu sich selbst kommt. In den 60er Jahren wird er für die linksliberale Öffentlichkeit der BRD zum wichtigen Indien- und Ostasien-Analytiker. Und er schmuggelt eine neue Ideenwelt in den Diskurs: Er entdeckt den Theravada-Buddhismus, den »puritanischen«, sich strikt auf die eigenen Ursprünge berufenden Buddhismus, wie er damals noch und bereits massiv von Krieg und Vernichtung bedroht in Südostasien, vor allem Vietnam und Kambodscha, praktiziert wurde (Theravada = Lehre der Alten).

 

Es ist frappierend, diese Analysen mit der zwanzig Jahren zuvor entstandenen Totalitarismus-Schrift zu vergleichen. Im sowohl anti-individualistischen wie anti-kollektivistischen, egalitären und hierarchiefeindlichen, aber nicht aktivistischen Theravada-Buddhismus entdeckt er den Ausweg aus dem totalitären Paradigma. In keinem naiven Sinne: Eine Übertragung dieses Buddhismus auf Europa und seine sozialen Bewegungen schließt Langerhans aus! Es bleibt eine Bewunderung aus der Ferne, seine Aneignung ist utopisch. Vielleicht muss man konstatieren: Es ist seine eigene interessierte Lesart, die ihm diese Spielart des Buddhismus als Ausweg aus europäischen Sackgassen erscheinen lassen. Sein letzter publizierter Text — 1970 — ist ein kleiner, verstörender Kommentar zur europäischen Kolonialgeschichte, er schreibt von der vom NS herbeigeführten »Koinzidenz des beginnenden Zusammenbruchs des Kolonialbegriffs und eines Rückgriffs auf koloniale Herrschaftsmethoden mitten in Europa«. Das Zeitalter des Terrors endet nicht mit der Niederlage des NS, sondern wird durch sie erst wahrhaft eingeläutet.

 

III

Langerhans bricht, indem er die verbrauchten Energien der europäischen Arbeiterbewegung seiner Zeit darstellt, mit dem eurozentrischen Paradigma im westlichen Marxismus. Wie kein anderer zentraleuropäischer Marxist seiner Generation eignet er sich indische und ostasiatische Geschichte an und macht buddhistisches Denken fruchtbar für Sozialkritik. An seinem (Spät-)Werk lässt sich die Frage nach einem Ost-West-Verständnis neu diskutieren, Versöhnung und Harmonisierung stehen dabei nicht im Vordergrund, es geht um die Vermessung von Distanzen und die Lernprozesse, die sich daraus ergeben. (Langerhans war, anders als viele Emigranten, übrigens nicht vom Furor der Studentenbewegung entsetzt, sondern entdeckte mit klammheimlicher Freude die lange ersehnten spontan-antiautoritären Aktionsformen.)

 

Dem geht die erste erste marxistische Totalitarismustheorie voraus. In ihr radikalisiert Langerhans Einsichten des Rätekommunismus (»The struggle against fascism begins with the struggle against bolshevism« heißt 1939 einer der letzten Texte Otto Rühles, einem der maßgeblichen antiautoritären Kommunisten der Weimarer Jahre – Rühle kannte übrigens einige Schriften Langerhans‘), und ist auch soziologisch distinkter als die Aufklärungskritik der Kritischen Theorie. Langerhans letzte veröffentlichten Sätze gelten dem Fortleben des terroristischen Zeitalters NACH dem Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung mit seinen Schriften schließt nicht nur eine historische Lücke der Ideengeschichte, sondern ermöglicht ein besseres Verständnis unseres Zeitalters. Langerhans diskutiert die totalitären Auswüchse, die der Kapitalismus aus sich selbst heraustreibt.

 

Strenggenommen war er Schriftsteller, seine Tätigkeit als Politologe war dieser Haltung nachgeordnet. Das hat nicht nur mit seinen Gedichten und seiner Bekanntschaft mit Brecht zu tun. Seine Totalitarismus-Schrift von 1942 lässt den wissenschaftlichen Sound hinter sich und nimmt die Form einer freien Assoziation an, die sich aber jederzeit ihrer sie letztlich strukturierenden Stammbegriffe versichern kann. Ist der Totalitarismus nur im Medium der Kunst darstellbar? Und zwanzig Jahre weiter gedreht: Hebt sich die Kunst im Buddhismus auf? In seiner New Yorker Zeit brach Langerhans mehr und mehr den Kontakt zu politischen Zirkeln ab und freundete sich mit Künstlern wie Edith Schloss, Fairfield Porter und Willem De Kooning an.

 

Sein Leben ist voller Brüche – aufgezwungener (KP-Ausschluss, Illegalität und Haft im NS) wie selbstgewählter. Ein selbstgewählter ist sein zeitweilig antistalinistisch-denunziatorisches Engagement. Und das verweist indirekt auch auf Köln. Köln war in den 50er Jahren ein Zentrum des geistigen Antikommunismus, ganz vorne dabei: der Verleger Johann Caspar Witsch (vgl. der 2014 erschienene erste Teil seiner Biographie »Das Buch Witsch« von Frank Möller). Witsch verlegt antikommunistische Bücher in Massen, darunter Renegatenliteratur: autobiographische und analytische Texte von Ex-Kommunisten und antistalinistischen Linken. Diese Bücher, etwa Ante Ciligas »Im Land der verwirrenden Lüge« oder Gustav Reglers »Das Ohr des Malchus«, sind heute noch resp. heute erst recht sehr lesenswert. Inwiefern sind sie aber durch ihren publizistisch-strategischen Kontext ›beschädigt‹, also unbrauchbar für emanzipatorische (und damit auch anti-antikommunistische) Strategien? Wenn wir von der individuellen Rolle Langerhans abstrahieren, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit unabhängigen politischen Handelns in einem verminten, von Big Playern okkupierten Feld. Ist die Entscheidung gegen Moskau bereits eine für Washington? Richtet der Widerwillen kleiner linker Gruppen, sich der Ost-West-Teilung der Welt zu unterwerfen, etwas dagegen aus, dass sie in dem Raster dieser Teilung dennoch eingeordnet werden?