Die totalitäre Erfahrung – Übersicht

»Warum wendest du deinen Blick so weit nach rückwärts?«

 

fragte ich den Lehrer, als ich bemerkte, daß er in alten

 

Blättern blätterte.

 

Die uralte Herrschaft sei noch älter, als wir bisher angenommen hatten, sagte er.

 

»Es ist also schwerer sie abzuschütteln, nicht leichter.«

 

 

Mit diesen Zeilen aus seinem Prosagedicht »Der Lehrer« hält Heinz Langerhans (1904-1976) eine für ihn entscheidende Konstellation fest: Der hier angesprochene Lehrer ist Karl Korsch (1886-1961), der vielleicht wichtigste unabhängige marxistische Intellektuelle in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Korsch wurde 1926 aus der KPD ausgeschlossen (»Linksabweichung«) und formulierte in der Folgezeit eine antiautoritäre, antistalinistische Lesart kommunistischer Theorie. Sein Schüler Langerhans gehörte 1926 ebenfalls zu den Ausgeschlossenen und war bis 1933 an allen Theoriediskussionen der Korsch-Gruppe beteiligt. Leitlinie ihrer Diskussionen ist die Analyse der Konterrevolution, die auf den revolutionären Zyklus der Arbeiteraufstände von 1917 bis 1921 folgt. Die nahezu widerstandslose Machtergreifung der Nationalsozialisten schockiert Langerhans nicht. Den Zweck der Untergrundgruppe, die er schon im Februar 1933 aufbaut, sieht er darin, nüchterne theoretische und empirische Analysen bereitzustellen und geduldig nach neuen proletarischen Widerstandskernen zu suchen. Er sagt eine lange Dauer des Regimes voraus, weil es ihm gelingen wird, Elemente der Arbeiterbewegung in die Entwicklung der Produktivkräfte zu integrieren (symbolisch wie sozialpolitisch) und diese durch die protektionistische Intervention des Staates imperialistisch-kriegerisch auszurichten. Staatsmacht, Kapitalmacht und die diesen ursprünglich entgegengesetzte Arbeiterbewegung verschmelzen — wenn auch nicht widerspruchsfrei und auf keinen Fall auf Dauer — zu einem Block neuartiger Klassenherrschaft, den Langerhans »Staatssubjekt Kapital« nennt. 1934, da ist die Gruppe bereits gesprengt und Langerhans sitzt im Knast — später im KZ —, sagt er in einem auf Zigarettenpapier codiert niedergeschriebenen Kassiber binnen der nächsten fünf Jahre den Ausbruch eines Weltkriegs voraus.

 

Langerhans kommt am 20. April 1939 aufgrund der »Führeramnestie« aus dem KZ Sachsenhausen frei und flüchtet wenige Wochen später nach Belgien, wo er sofort seine theoretische Arbeit aufnimmt und für den Korsch-Kreis »Thesen über den Krieg« verfasst. Eine abenteuerliche Flucht über Frankreich und durch mehrere Internierungslager spült ihn schließlich 1941 in die USA. Dort nimmt er Kontakt zum mittlerweile in Boston lebenden Karl Korsch auf, er wird Stipendiat des legendären Frankfurter Instituts für Sozialforschung, er knüpft an seine alte Freundschaft mit Bert Brecht an, den er Ende der 20er Jahre in Berlin kennengelernt hat. Gleichzeitig taucht er in die New Yorker Bohème ein und freundet sich mit Fairfield Porter, dem Ehepaar de Kooning und Edith Schloss an. Langerhans geht davon aus, dass die Substanz marxistischer Theorie nahezu vollständig aufgebraucht ist, in den Kreisen, denen er verkehrt, gilt er als genialer Kopf, er lehnt es aber ab, ein theoretisches System zu formulieren. Er schreibt also Gedichte, Brecht ist von ihnen begeistert. Laut seinem Freund Leo Friedmann gelangt Langerhans zur Einsicht, dass Theorie einstweilen nur noch in der Form von Dichtung – von künstlerischer Praxis — möglich ist. Friedmann sieht Langerhans eher in der Linie Hölderlin-Nietzsche als in der Linie Marx-Lenin.

 

Gleichwohl betreibt Langerhans Theorie: Er verfasst 1941/42 ein großes Manuskript »How to overcome Totalitarianism?« und zusammen mit dem bereits genannten Leo Friedmann (1905-1993), einem linkssozialistischen jüdischen Journalisten, der im belgischen Exil in den 30er Jahren zu ähnlichen Einsichten wie Langerhans gelangt ist, eine materialistische Theorie des Blitzkrieges (verschollen!).

 

Das ist der historische Moment, in dem die Szene, die er im Prosagedicht über Korsch festhält, das zur gleichen Zeit entstanden ist, ihre Schlüsselstellung gewinnt. Mit Korsch teilt Langerhans den grundlegenden Gedanken, dass die Konterrevolution, die von 1919 (Ermordung Luxemburgs und Liebknechts) bis hin zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führt, tiefer reicht und sozial konstitutiver ist, als es eigentlich fast alle marxistischen Theoretiker dieser Jahre wahrhaben wollen: Die Konterrevolution ist nicht einfach nur eine Reaktion, ein blutiger Rückschlag, sondern eine neue Formation des Kapitalismus; wesentlich für die Herausbildung dieser Formation ist die Involution der russischen Revolution, die schließlich zum Motor dieser Konterrevolution geworden ist. Obwohl sich Langerhans nachwievor als Marxist versteht, spricht er schon vom Totalitarismus.

 

Aber während aus der Sicht Langerhans‘ bei Korsch das Blättern in alten Büchern, also das Gewahrwerden der Tiefe der Konterrevolution, zur Verzweiflung führt, wagt Langerhans — gegen Korsch — den Tigersprung. Die triumphierende Konterrevolution ist für ihn nicht das Stadium gesellschaftlicher Entwicklung, das sich vom Kommunismus am weitesten entfernt befindet, sondern schon der Umschlagspunkt, das »An sich« der künftigen Umwälzung: Die Integration aller gesellschaftlichen Kräfte in einer Maschinerie der Produktion und Produktivität kommt dem kommunistischen Ideal einer Gesellschaft, an der alle im gleichen Maße partizipieren, nahe. Das Gelingen der Integration unter kapitalistischen Voraussetzungen kann zunehmend nur durch Terror — und Krieg als dessen gesteigerte Form — gewährleistet werden. Terror und Krieg fressen aber auf Dauer die Legitimationsbasis der Konterrevolution auf. Aus dem Widerstand gegen sie ergibt sich der Übergang zum Kommunismus.

 

Soweit der Gedankengang Langerhans‘ (und Friedmanns). Diese Outline wird rundherum abgelehnt: Korsch wendet sich erschrocken ab, auch Adorno und Horkheimer, die in Langerhans waghalsiger Dialektik vielmehr den Nachhall des Schreckens seiner KZ-Haft erkennen — eine Art Fieber der Seele. Langerhans verschreibt sich dem publizistischen Kampf gegen den Terror, den er, als sich 1944 die baldige Niederlage Deutschlands abzeichnet, in der Sowjetunion konzentriert sieht. Die Niederlage des Faschismus wird einen viel mächtigeren Feind hervorbringen: die Sowjetunion als Weltmacht. Langerhans schließt sich 1944/45 dem berüchtigten Denunzianten-»Network« der früheren Kommunistin Ruth Fischer (1895-1961) an. Da ist er schon längst dem FBI und House Un-American Activities Commitee aufgefallen, die über den ehemaligen kommunistischen Jugendfunktionär eine Akte anlegen.

 

Der weitere Lebensweg Langerhans‘ ist nicht minder gewunden — es ist jetzt allerdings ein akademischer. George H.W. Bush besucht seine Vorlesungen und kann sich noch vierzig Jahre später daran erinnern: »…and one day at assembly a refugee named Heinz Langerhans told in a thick accent about life in a Nazi Concentraion camp.«

 

Ab 1947 lehrt Langerhans Soziologie in Gettysburg, wie symbolisch: dem mystischen Ort des amerikanischen Bürgerkriegs!, geht 1956 nach Saarbrücken, unterrichtet als Politologe lange in Dacca (damals noch Ost-Pakistan), ab 1966 in Gießen. Er entdeckt den Theravada-Buddhismus und deutet ihn materialistisch: Jetzt ist er auf der Suche nach einem dritten Weg gesellschaftlicher Entwicklung, der über die für ihn schal gewordene Entgegensetzung Kapitalismus-Sozialismus hinausweist. Er begrüßt 1968 die Studentenbewegung, zeigt sich bereit, über »damals«, seine Zeit mit Korsch und Brecht zu sprechen, stirbt 1976 nach kurzer schwerer Krankheit in Einsamkeit.

 

Sein wissenschaftlicher Nachlass, der lange als verschollen galt, ist vor einigen Jahren in Teilen aufgetaucht. Darunter auch seine Totalitarismus-Theorie, von der es wohl nur zwei oder drei Kopien gegeben haben dürfte. Das — und die Möglichkeit der mittlerweile niedrigschwelligen Archiv-Recherche — ermöglicht erstmals die Rekonstruktion seines biographischen wie theoretischen Werdegangs und überhaupt die Entdeckung eines Theoretikers und Dichters einer Epoche und einer »political community«, die man für hinreichend erforscht hielt. Diese Rekonstruktion ist nicht nur ein Liebesdienst an einen eigenwilligen, einsamen, sicherlich auch extremistischen Nonkonformisten. In seiner ungeschützten Radikalität offenbart sein Denkweg in beängstigender Klarheit die Umschlagpunkte der Anstrengung, den Schrecken seiner Epoche — Konzentrationslager in Deutschland, Arbeitslager in der Sowjetunion; Siegeszug der Propaganda in Deutschland, Siegeszug der Kulturindustrie in den USA — auf einen Begriff zu bringen. Langerhans ist kein kalter Krieger, der wie so viele von ganz links nach ganz rechts geschlingert ist, aber er stellt sich die Aufgabe, den Schrecken des Totalitarismus ganz zu durchmessen, um in ihm die Elemente des Umschlags zu antizipieren: Das ist die totalitäre Erfahrung, die Verarbeitung von etwas, das Verarbeitung (Reflektion, Einordnung, intellektuelle Distanz) auslöschen will.